Interview

Wien, Wien, nur du allein Im Gespräch mit Norbert Kettner

Über die Schönheit von Wien. Welche besondere Faszination diese Stadt ausübt und wie sie mit ihren Klischees umgeht. Was uns Teppiche in einem der wichtigsten Design-Museen der Welt über Zeit sagen können. Und warum Barrierefreiheit ein Recht ist und nichts mit Almosen zu tun hat.

Michael Sicher: Herr Kettner, Sie sind seit 2007 Direktor des WienTourismus. Was macht die Faszination aus, Menschen aus aller Welt dafür zu begeistern, nach Wien zu kommen?

Norbert Kettner: Für mich ist es eine ganz intrinsische Motivation. Ich bin am Land aufgewachsen. Ich kann mich erinnern, meine erste große, wirklich große Stadt war Paris. Ich habe mich einfach an den Arc de Triomphe, zum Triumphbogen, gestellt, und gesehen, wie zwölf Autospuren zusammenkommen und in einem vierzehnspurigen Kreisverkehr münden. Das war für mich das pure Glück und der Beginn meiner Faszination für die Stadt, für das Konzept Stadt.

Reisen war für mich immer ein wichtiger Punkt. Dieses Aufsaugen von anderen Eindrücken, von anderen Kulturen. Und dann die persönliche Evolution. Wenn man jung ist, denkt man sich: „Das ist schräg oder komisch.“ Dann hat man irgendwann einmal diese Evolution zu sagen: „Es ist nirgendwo automatisch schlechter oder besser, sondern es ist anders.“ Das finde ich spannend. Es ist für mich der Antrieb zu sagen: „Ja, ich bin stolz auf meine Stadt. Ich halte Wien mit Paris für eine der schönsten Städte der Welt.“ Das will man herzeigen. 

Auch die Lebensqualität zu teilen, das kulturelle Angebot zu teilen und auch eine Motivation, für die Durchlüftung der Stadt zu sorgen. Ich finde ich den Tourismus auch für die Wissenschaft und generell für die Offenheit einer Stadt ganz wichtig. Ich will nicht an einem Ort leben, der sich selbst genug ist. Das würde ich nicht aushalten.

Bei der Pandemie war für mich einer der schwierigsten Vorgänge die Renationalisierung und Reprovinzialisierung des Diskurses. Dass wir Europa von einem Tag auf den anderen aufgegeben haben, war für mich furchtbar. Ich habe das Gefühl, dass ich mit meinen bescheidenen Mitteln zur Durchlüftung der Stadt beitrage, und das ist auch mein Antrieb. 

Michael Sicher:Wir sind hier im MAK, dem Museum für Angewandten Kunst, das erste und älteste Museum an der Ringstraße ist. Was macht es so besonders? Warum haben Sie es als Ihren Lieblingsort gewählt, insbesondere die Teppichsammlung, in der wir vorhin waren?

Norbert Kettner: Ich finde, es ist eines der wichtigsten Design-Museen der Welt, was man in Österreich oft übersieht. Dann ist es ein sehr spannender Bau, das erste Museum an der Ringstraße. Und es hat einige wirklich weltweit bedeutende Sammlungen, wie unter anderem die Teppichsammlung. Josef Frank, ein ganz wichtiger Designer, der in den 1910ern bis 1940ern seine höchste Zeit hatte, aber in den 1930ern Österreich aus politischen Gründen verlassen hat, hat gesagt: „Handwerk ist so wichtig, weil sich das Tempo der Produktion eines Werkstückes auf das Lebenstempo des Nutzers auswirkt.“ Ein handwerkliches Kunststück oder Designstück, das mit viel Zeit gebaut worden ist, nutzt man anders als ein schnelles Industrieprodukt. Er hat bewusst die orientalischen Teppiche genannt, weil das Knüpfen dieser Millionen von Knoten besonders langsam vor sich geht. Und weil das Produkt diese Langsamkeit der Produktion aufsaugt und - ich glaube - sie wieder abgibt, wenn man es nutzt. Der Raum der Teppichsammlung ist fast ein sakraler Raum. Ich bin nicht religiös, aber es gibt weltliche Räume, die eine fast sakrale Stimmung ausströmen. Das finde ich dort einfach wunderschön. 

Michael Sicher: Was bedeutet Zeit für Sie persönlich? 

Norbert Kettner: Immer zu wenig zu haben. Sehr an sich arbeiten zu müssen, gerade wenn man älter wird, auch besser mit der Zeit umzugehen. Diese Illusion, mit fünfundfünfzig immer noch zu glauben, dass man manche Dinge genau so schnell abhandeln kann wie mit fünfundzwanzig und sich dann aber sagen zu müssen: „Du kannst es nicht mehr in der Zeit machen.“ Und ich finde, den Frieden mit seiner eigenen Vergänglichkeit zu finden. Das klingt jetzt viel gescheiter, als es in meiner Realität ist, aber ich finde das ganz wichtig. Das hilft auch, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen. 

Michael Sicher: Wenn wir die Zeit von Wien nach der Eröffnung der Ringstraße 1865 betrachten. Wie würden Sie diesen Weg der Stadt Wien seit damals beschreiben? Auch mit einem kleinen Blick in die nahe Zukunft.

Norbert Kettner: Ich sehe es so, dass wir derzeit in der vierten Wiener Moderne leben. Die erste war die große liberale Ära. Mit dem Bau der Ringstraße und der Wiener Hochquellwasserleitung. Als man - nicht nur, weil man Philanthrop war, sondern vor allem wegen der Cholera - erkannt hat, wie wichtig frisches Wasser und Infrastruktur für eine Stadt sind. 

Dann die große, klassische Wiener Moderne in der Kunst, die ja in Wien keine politische war. Die Wiener Moderne, der Jugendstil und so weiter hatte nicht das Ideal, die Gesellschaft zu verändern, sondern einfach die Welt schöner zu machen. Was auch legitim ist. Es gab in dieser Zeit große Errungenschaften wie die Rekommunalisierung von städtischen Leistungen, die Straßenbahn, öffentlichem Verkehr, den großen Plan von Otto Wagner - der große Stadterweiterungsplan -, der dann natürlich nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr umgesetzt wurde. 

Anschließend die dritte Wiener Moderne mit dem Roten Wien. Da ging es ganz stark darum, wie man das Leben des Individuums verbessert. Mit dem Wohnbau, mit dem Fokus darauf keine Dinge zu tun, die nicht auch dem Individuum helfen. Davor war das große Bild eher, wie man die fünftgrößte Stadt der Welt organisiert. Dann der riesige Rückschlag mit Faschismus und Nationalsozialismus. Unfassbar, wie hoch die Fallhöhe war. Und wie furchtbar gerade die Stadt - abseits vom menschlichen Leid - intellektuell getroffen wurde. Eine Stadt, in der das jüdische Leben im intellektuellen Sinn, aber auch im wirtschaftlichen Sinn, so wichtig war. Unter dieser großen Reprovinzialisierung haben wir bis in die Neunzigerjahre gelitten. 

Bei dem EU-Beitritt und der Osterweiterung haben wir eine neue Rolle gefunden und müssen sie aktiv annehmen: Wie macht man aus einer Stadt mit hoher Lebensqualität eine noch nachhaltigere Stadt? Wir sind schon sehr nachhaltig, aber ich glaube, es führt kein Weg daran vorbei, sich zu überlegen: Wie schaut eine Metropole des einundzwanzigsten Jahrhunderts aus? Das sehe ich als die vierte Wiener Moderne. Hier müssen wir anpacken. 

Michael Sicher: Gibt es eine Metropole, die dazu als Vorbild dient? 

Norbert Kettner: Da zögere ich immer, weil wir dabei schon viel von Stadtmarketing reden. Zum Beispiel wird oft in Verbindung mit dem Radverkehr Kopenhagen genannt. Aber es gibt auch die Tatsache, dass in Wien prozentuell gesehen weniger Autoverkehr herrscht als in Kopenhagen. Das wird immer verschwiegen. In Wien war das Match niemals Fahrrad gegen öffentlichen Verkehr, sondern öffentlicher Verkehr gegen Auto. Ein Match, das das richtige ist. Die Mobilität in der Stadt sollte öffentlicher Verkehr abdecken, das finde ich ganz wichtig. Auch Menschen, die nicht aufs Rad springen können, haben das Recht, Mobilität zu bekommen. Das funktioniert nur über ein gut ausgebautes öffentliches Netz, das zugänglich ist. An Mobilität führt nichts vorbei.

Michael Sicher: Wien bedient auch einige Klischees. Vom Heurigen bis zu Sissi. Aber was macht für Sie persönlich den Charakter von Wien aus?

Norbert Kettner: Ich finde sehr wichtig, dass man mit den eigenen Klischees spielerisch umgeht und sie zulässt. Ich halte nichts von einer verkrampften Pseudomodernität. Sondern ich finde das Miteinander von Klischee und Modernität, Neuerfindung von Klischees, popkulturelle Aufladung von Klischees spannend. Das finde ich auch in Paris so schön. Dieses Nebeneinander in der Architektur und auch zu wissen, wo man herkommt.

Man verneigt sich vor der Vergangenheit, aber man liegt nicht am Boden. Und dabei hat man immer im Kopf: Was passiert heute und morgen? Den spielerischen Umgang, das Laisser-faire, finde ich sehr spannend. Ich bin da Anhänger des französischen, universalistischen Gleichheitsgrundsatzes, nämlich der Gleichgültigkeit. Ich finde Gleichgültigkeit im Zusammenleben spannend. Nämlich nicht Gleichgültigkeit im Sinne von Ignoranz, sondern andere einfach sein lassen. Es gibt, und da bin ich sehr technokratisch, rechtliche Grundlagen, es gibt Standards, die eingehalten werden müssen. Gerade bei der Barrierefreiheit. Das hat nichts mit Emotion zu tun. Das ist ein Recht. Und in der Hotellerie oder generell im Hospitality-Sektor sollte das noch mehr einfach ein Standard werden. Wenn jemand im Rollstuhl kommt, dann gibt es einfach ein Prozedere, wie das zu funktionieren hat. Das hat auch mit Servicequalität und Servicedesign zu tun. Da muss man hinkommen.

Gerade wenn wir über Themen wie Barrierefreiheit reden, gibt es Normen, die eingehalten werden müssen. Menschen, die von Beeinträchtigungen betroffen sind, brauchen durchsetzbare Rechte. Das klingt wahnsinnig technokratisch, aber ich finde einfach, dass es viel spannender ist, wie man miteinander Leben organisiert.

Michael Sicher: Sie haben Wien sehr gut für die LGBT-Community positioniert und positionieren Wien jetzt als Luxusdestination. Was glauben Sie, ist auch abseits der Tätigkeit des WienTourismus, für eine Stadt notwendig, um sie noch mehr im barrierefreien Tourismus zu positionieren?

Norbert Kettner: Tue etwas und rede nicht nur darüber. Die Sache nicht als philanthropische Nebenbaustelle sehen, sondern als zentrales Momentum der Weiterentwicklung, das überall dabei ist. Ein ganz ein wichtiger Aspekt dabei ist das Social Design. Wien hat eine riesige Tradition im Social Design. Die Gemeindebauten waren Social Design. Es geht darum, wo Design das Leben von Menschen besser macht. Das ist ein zentrales Moment von Design. Nicht, wie letztendlich das Finish aussieht. Es geht darum, das Leben von Menschen zu vereinfachen. Und das muss im Zentrum, im Großen einer Gesellschaft stehen. Was macht Politik, was macht Stadtentwicklung, um das Leben der Menschen besser zu machen? Dann kann man sich ansehen, was bestimmte Gruppen brauchen. Es geht nicht um Almosen, sondern es geht um soziale Gerechtigkeit. Jeder hat das Recht, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. So muss eine zivilisierte Gesellschaft funktionieren.

Michael Sicher: Sie reisen sehr gerne und sind viel unterwegs. Worauf freuen Sie sich am meisten, wenn Sie wieder zu Hause sind?

Norbert Kettner: Früher hat man gesagt: „Das Brot vom Anker und das Wiener Hochquellwasser.“ Das Wasser hat schon etwas.

Ich muss sagen, dass ich immer wieder überwältigt von der Schönheit von Wien bin. Sie ist wirklich etwas, was für mich immer noch atemberaubend ist. Man vergisst oft, in welchem schönen Umfeld wir wohnen. Und oft ist man erstaunt und sagt sich: „Wow, das gehört alles zu Wien?“

Ich finde, dass Wein etwas mit der Mentalität macht, mit der Sanftheit. Wein wächst dort, wo das Klima sanfter ist. Es gibt Weinkultur und Bierkultur. Ich trinke beides gerne. In Maßen. Aber Wien ist natürlich schon eine Stadt der Weinkultur. Es macht einfach etwas Besonderes aus. Aber die Schönheit, die Kultur, das sind Dinge, die ich schätze.

Und zunehmend auch vermeintlich spießige Themen wie das schiere Funktionieren einer Stadt. Wo man, wenn man viel in der Welt herumkommt, erst merkt, was es für ein riesiger Wert ist, dass eine Stadt einfach funktioniert.

Michael Sicher: Wenn Sie Besuch bekommen, wie würden Sie eine Tour durch Wien zusammenstellen?

Norbert Kettner: Wenn jemand noch nie hier war, die Highlights. Den ersten Bezirk, die Ringstraße, das Belvedere, Schönbrunn. Der Wurschtelprater ist immer am Plan. Ich finde diese Ausgelassenheit, das Schrille, Vulgäre, Ordinäre wahnsinnig erfrischend. Das gehört auch zum Teil in eine Stadt. Also ein bisschen Las Vegas-Feeling. Aber es geht auch immer ein bisschen ins Grüne. Das kann die Cottage sein oder ein Heuriger.